THOMAS ANSCHÜTZ
Dr. Christiane Stahl
Eröffnungsrede anlässlich der Ausstellungseröffnung PRADO 250
in der Galerie im Rathaus Tempelhof Berlin 2014
Schicht für Schicht zum Interferenzmuster
FIORE heißt das 2 Meter lange Panorama einer Gebirgslandschaft. FIORE. Warum FIORE? Hier ist keine Blume abgebildet, wir sehen nur Bäume. Also weiter gucken. Wir schauen auf ein historisches Foto, daran besteht kein Zweifel, denn die Schrammen, Kratzer und Läsuren sind nicht zu übersehen. In der linken unteren Ecke zieht sich gar eine dicke Linie durch das Bild, die aussieht, als rühre sie von einer Bruchstelle im Glasnegativ. Es sind jede Menge weiße Fussel im Bild. Und Fehlstellen in der Gelatineschicht. In einem guten Erhaltungszustand ist die Aufnahme nicht. Historisches Material hin oder her, aber die Zerstörungen sind doch reichlich massiv. Auf jeden Fall hätte eine Reinigung nicht geschadet. Schauen wir aber weiter, denn der Künstler wird sich ja dabei etwas gedacht haben.
Ein langgestreckter See oder ein Fluss schlängelt sich durch die mit Nadelwäldern bedeckten Berge. An beiden Ufern entlang führen Autostraßen in die Tiefe. Über den See schiebt sich eine historische, massive Eisenbahnbrücke, die auf der anderen Seite des Sees – ja wohin? Ins Nichts führt. Es gibt keinen Tunnel. Sie endet dort einfach. Und dann die Autostraße am rechten Ufer: sie steht auf Brückenpfeilern. Eine Brücke direkt am Seeufer? Eigenartig. Aber gut, warum nicht, ist ja gebirgig. Links der Strasse entdecken wir jedoch, noch näher am Ufer, eine weitere Eisenbahntrasse. Und am linken Ufer fahren die Autos dann direkt auf die Eisenbahnbrücke auf. Spätestens jetzt wird klar: da stimmt was nicht. Und schauen wir denn überhaupt auf historisches Material? Im 19. Jahrhundert gab es noch keine Autobahnbrücken. Auch keine Wohnmobile und elektrische Straßenbeleuchtung. Eine zeitgenössische Aufnahme des Künstlers kann es auch nicht sein, die Autos sehen aus wie amerikanische Riesenschlitten aus den späten 60er-Jahren, als man noch literweise Benzin verschleudern konnte, da hatte Anschütz noch keinen Führerschein und lebte er noch nicht in den USA.
Die Aufnahme UTRUP scheint man auf den ersten Blick als ein aus der Luft aufgenommenes Industriepanorama abspeichern zu wollen, das in epischer Breite zur genauen Betrachtung einlädt. Schnell aber zeigen sich Unstimmigkeiten in den Übergängen. Die Autobahnzubringer fräsen sich durch das Fabrikgebäude, das Parkdeck in der Bildmitte ist völlig unmotiviert umzingelt von einer rund gebogenen Strasse, die in eines der Gebäude vorstößt, die einzelnen Gebäude haben eine gefährliche Neigung, als würden sie jederzeit in sich zusammenstürzen. Und überhaupt: warum, z.B., sind die Strassen so zugemüllt mit verschlammten Ästen?
Das Verwirrspiel ist beabsichtigt. Und soll doch für jeden entwirrbar bleiben. Denn es ist nach kurzer Betrachtung nicht schwer erkennbar, dass die Bilder aus mehreren Aufnahmen bestehen. Thomas Anschütz schichtet Bilder, fügt sie neben- und ineinander, überblendet sie und baut neue urbane Räume, die sich erst auf den zweiten und dritten Blick erschließen lassen. Oder auch nicht. Der wandernde Blick hält hier und dort an, ein immenser Detailreichtum erleichtert das Erkennen, das Enträtseln wird zum Suchspiel, bei dem man nicht immer weiß, wo welche Szene anfängt und wo sie endet.
In jedem Fall möchte man bald gerne wissen, wo das jeweilige Bild aufgenommen wurde, wer der Autor ist und von wann es datiert. Also will ich des Rätsels Lösung sogleich liefern: Grundlage der beschriebenen Werke bilden High-Res-Scans, die die Library of Congress von Werken aus ihrem Fotoarchiv angefertigt und auf ihre website gestellt hat. Die hochaufgelösten Daten kann jeder runterladen. Unentgeltlich. Man muss nur einen guten und großen Computer haben. Das Bild, das FIORE zugrunde liegt, heißt „Columbia River Highway“ und ist aus dem Jahre 1968. Daneben, dazwischen, darunter und darüber gelegt sind zwei weitere Aufnahmen aus der Library of Congress, wobei Teile regelrecht ineinandergeschoben sind. Andere Partien sind durch eine kontrastierende Beleuchtung hervorgehoben bzw. in den Hintergrund gerückt. Die digitale Feinarbeit am Computer ähnelt durchaus der analogen Arbeit in der Dunkelkammer. Hier wie dort werden Teile des Bildes stärker oder schwächer ausbelichtet, mit Schablonen, durch Abwedeln und allerlei Dunkelkammerkniffs, die Erfahrung fordern. Das Bild kommt in der Entwicklerschale nur langsam zum Vorschein, das Licht tritt aus dem Dunkeln heraus – der Vorgang ist dem der Computerbearbeitung nicht unähnlich.
Auch die in ETKAL zusammen gefügten Bilder stammen aus der Library of Congress. Es zeigt einen mexikanischen Bahnhof, wahrscheinlich um die Jahrhundertwende, die europäisch wirkende Architektur im Hintergrund zeigt den spanischen Einfluss der mexikanischen Architektur. Links sehen wir die Überreste verbrannter Gebäude aus dem großen Brand von San Francisco 1906.
Das erklärt aber noch nicht die eigenartigen Holzgebilde auf den Autobahntrassen in unserem Industriepanorama UTRUP. Hier hat Anschütz eigene Fotografien als weitere Bildschicht aufgelegt. Er verwendete die Aufnahme einer schmelzenden Schneedecke auf einer Wiese, auf der sich Grasflecken zeigen, die die Sonne frei gelegt hat. Mehr ist das nicht. Aber der Effekt ist verblüffend.
So liegt auch bei ESNEL eine Schicht natürlicher Surrogate über der Aufnahme einer amerikanischen Dampflokomotive. Die Oberfläche ist von Eiskristallisationen durchleuchtet, die dem Bild eine kalte Atmosphäre einhauchen. Technik – die Eisenbahn - und natürliche Form – das Eis – sind hier verwoben zu einem Ausdruck von kühler Präzision, zu dem sich die gefühlte Kälte niedriger Temperaturen gesellt. Den visuell sichtbaren Elementen der Technik ist eine Gefühlsebene zugeordnet, die tief in jedem von uns rührt. Natur und Technik sind hier verwoben zu einer neuen Einheit und rufen atavistische Gefühle hervor, die in jedem von uns eingeschrieben sind.
Wir sehen auch Aufnahmen von Raumschiffen und Raketen, die Anschütz im Netz von der NASA bezog, deren Bilder in ebenfalls sehr hoher Auflösung öffentlich zugänglich sind. Sie werden überlagert von Luftaufnahmen von Städten und von technischen Details, die eine andere technische Dimension mit sich führen. Die Sputnik in FOKAL schwebt wie das Gespenst einer Raumkapsel vor dem Lichtermeer der antike Tempelberg Kairo. Die Apollo 13 in SPUCA wird umlagert von kreisförmigen mechanischen Kleinteilen, über deren Herkunft und Nutzen keine Aussage getroffen werden kann.
Anschütz sagt, er „kultiviere die Ränder“. Viele der Gebrauchsspuren auf den Aufnahmen sind in der Tat echt. Aber nur insofern als sie analog erzeugt wurden, häufig mittels massiver zeitlicher Beschleunigung. Oft ist Anschütz mit einem Foto unter der Schuhsole rumgelaufen oder hat Bilder eingegraben und sie physikalischen Einflüssen ausgesetzt. Die analogen Bilder werden dann gescannt und in digitale Ordner abgelegt, in denen die vermeintlichen Zerstörungen der Bildoberfläche bewahrt werden, sortiert und vom Künstler ironisch benannt als „Dr. Anschütz‘ gesammelte Kratzer“. Aus diesem Hut zaubert Dr. Anschütz die unterschiedlichsten Fehlerhaftigkeiten, die er den zu einem Ganzen zusammen gefügten fotografischen Schichten überstülpt: geschmolzene Schneefelder wirken wie Abplatzungen der Gelatineschicht; Wassertropfen sehen aus wie von Hitze aufgeworfene Blasen; weiße Bruchlinien assoziiert man mit einem Glasnegativbruch, weiße Fussel werden zu Staubablagerungen auf dem Negativ, schwarze Fussel zu Rückständen auf dem Positiv. Das Mathematische des Digitalen und Mechanischen wird konterkariert durch den Verweis auf die Historizität der Dinge. Wenn technische Dinge Sprünge bekommen, büßen sie ihre Perfektion ein.
Die Nostalgie ist Programm und hat mit Anschütz‘ Biografie zu tun. Sein Vater hat bei der Firma Leitz in Wetzlar als Feinmechaniker in der Objektivfasserei für Projektionslinsen gearbeitet und etliche Dokumente der von ihm mitentwickelten technischen Gerätschaften aufbewahrt. In dessen Bibliothek gab es viele Lehrbücher darüber, wie man in der Fotografie Bildstörungen vermeiden kann. Eine gute Quelle, wenn man diese Störungen bewusst verursachen will. Viele Dias, Negative und Dinge aus diesem Privatarchiv weisen Gebrauchsspuren auf, die Sprünge und Knicke haben, die Verletzungen aufweisen. Verletzungen, wie sie ja auch dem Leben eignen. Die Narben werden nur immer mehr, viele Spuren bleiben, manche sichtbar, manche unsichtbar. Die Patina der Dinge erinnert an die Geschichtlichkeit, in die jedes menschliche Leben eingeschrieben ist.
Aber auch Anschütz‘ Leidenschaft für technische Dinge und Zusammenhänge rührt daher. „Oft brachte mein Vater von der Arbeit kleine Gegenstände aus Metall mit, Dinge, die zum Beispiel exakt ineinander passten oder ein Gewinde hatten, auf das man ein anderes Teil schrauben konnte. Im Grunde waren dieses völlig funktionslose Gegenstände, die vielleicht in einer geordneten Gesamtheit eine Maschine hätten werden können; so aber, in ihrer Einfachheit, lediglich eine Beziehung von zwei oder drei Teilen ausdrückten.“
So verwendete er nicht nur Aufnahmen aus dem Netz, sondern auch fotografische Vorlagen aus dem Archiv seines Vaters. In Flara I und Flara II entdecken wir gefräste Dinge in maschinenbaulichen Zusammenhang, Teile von Stereomikroskopen und Projektionsapparaturen, oder die Aufschrift „wiss.-physikal. Labor“. Dabei wird die technische Rundform der Spulen und Metallteller überlagert von runden Seerosenblättern, auf die mit Filzstift Nummern aufgetragen sind. Eines dieser Instrumente stellt einen Vakuumheiztisch dar, der sogenannte Interferenzmuster bildet. Wenn man Steine ins Wasser wirft bilden sie Ringe, die sich irgendwann überschneiden. Diese Schnittstellen, die in ihrer Form auch akustischer, optischer oder materieller Herkunft sein können, bilden eine neue perspektivische Struktur, die sich Interferenzmuster nennt. In diesem Sinne versteht Anschütz den Gesamtaufbau seiner Bilder: die unterschiedlichen historischen Materialien prallen aufeinander und er gelangt Schicht für Schicht zu einem neuen Interferenzmuster, in dem Reminiszenzen des Vergangenen mitschwingen. Der Vorgang ist dem in der Musik ähnlich, weshalb er von „Klang“ spricht: „Durch die Mischung der Bilder entsteht ein neues Bild, neue Strukturen, die sich, wie beim Phänomen der Interferenz, verstärken, hervorheben, aber auch auslöschen können. Sie erzeugen einen neuen Klang. Aus beiden Quellen geschöpft, vermengen sich die Schnittstellen zu neuen, harmonischen Strukturen. […] Ziel meiner Arbeit ist es, die einzelnen Bildlagen zu einem Akkord zu verschmelzen, der einen Wohlklang bildet.“
Man darf auch nicht unerwähnt lassen, dass Thomas Anschütz aus der Malerei kommt. Auch wenn er keine typische Folkwangschule-Ausbildung unterlaufen und die Fotografie nicht gelernt hat, kann man ihn nicht als Autodidakt bezeichnen. Denn er hat alles vom Vater gelernt. Es gibt viele Erinnerungen an die Dunkelkammerarbeit, an’s Bilderwässern, an’s Fotografieren mit der Leica IIIf, die sich der Vater als Lehrling vom Munde abgespart hat. Es ist sicher kein Zufall, dass er auf Kinderfotos immer eine Kamera oder Objektive oder Fotos in Händen hält. Die Fotografie hat er im Studium in Kassel bei Floris Neusüss verfeinert, aber sie war für ihn Vorlage für seine Malerei. Von da ausgehend hat sich die Fotografie verselbständigt. In seiner Fotografie fließen die Motive ineinander wie in seinen nahezu gegenstandslosen Gemälden.
Die Bilder mit dem Titel Flara I und Flara II stellen die Geburtsstunde der gesamten Serie Prado 250 dar. Warum Prado 250? Prado 250 war der Name eines von Leitz entwickelten, mit grauem Schrumpflack überzogenen Diaprojektors, den der Vater nach Hause gebracht hatte. Anschütz‘ Erinnerung an die Kindheit ist geprägt von den Diaabenden, wo der Vater Märchenillustrationen an die Wand warf und das Wohnzimmer in eine Kapelle verwandelte. Das Licht des Projektors durchbrach die Dunkelheit und die Märchengeschichten erhielten eine visuelle Komponente, durch die das intensiv Erlebte dem Vergessen nicht anheimfallen konnte.
Bei den eigenartig anmutenden Bildtiteln handelt es sich um technische Bezeichnungen aus der Broschüre „Leica camera“ von 1931, die der Vater aufbewahrt hatte. Anschütz hat Scans dieser Titel aus der Broschüre angefertigt und diese neben seinen Bildern als Bestandteil des Werkes angebracht, damit sie einen sinnlichen Hinweis auf den Ursprung der Serie geben. Die Titel wirken fast wie biblische oder nordische Namen, bezeichnen aber eigentlich die Sache. So heißt KAZWO „Kassette mit zwei Filmhaltern“, Flara „Orangefilter" (Flare = Dunst, den der Orangefilter reduziert) und FIORE „UV-Filter, Aufschraubfilter für das Objektiv, Fio = ultraviolett?“. Prado nimmt wahrscheinlich keinen Bezug auf das Museum in Madrid, sondern bedeutet möglicherweise ganz unlyrisch „Projektionsapparat“. Über der Liste steht „Codeword“ als handele es sich um Spionage. Hier schwingt neben der lyrischen Konnotation eine deutsche Bezeichnungssucht mit.
Anschütz hat die Collagen selbst am Computer zusammengestellt und bearbeitet, was keineswegs selbstverständlich ist wenn man weiß, wieviel Hilfe etwa ein Thomas Gursky in Anspruch nehmen muss für die Fertigstellung seiner Arbeiten. Anschütz hat etliche Jahre an der Neuen Schule für Fotografie digitale Bildbearbeitung unterrichtet. Obwohl die analoge Technik und die Erfahrungen der Arbeit in der Dunkelkammer bis heute sein gesamtes Schaffen prägt, ist er auf diesem Gebiet ein Meister. Und nicht nur das. In seinem Strausberger Atelier hat er die Bilder an seinem eigenen Drucker produziert, die Drucke selber kaschiert, die kaschierten Bilder selber montiert und das Ganze selber gerahmt. Für das Holz der Rahmen hat er zwei verschiedene Holzbeizen verwendet und das Holz anschließend gewachst, damit die Rahmen nicht nur durch ihre zwischen Braun und Schwarz changierende Farbe, sondern auch durch ihren Geruch an Eisenbahnschwellen erinnern. Mit der Präsentationsform will er Reminiszenzen an technische Dinge wie Autos, Eisenbahnen und Flugzeuge herauf beschwören. Nicht nur mit dem Bildmaterial, auch mit der Präsentationsform sollen Kindheitserinnerungen erweckt werden, die in jedem von uns schlummern. Probieren Sie’s aus: Schauen Sie sich zuerst das Bild genau an, schließen Sie dann die Augen, schnuppern Sie am Rahmen – und vielleicht vermischen sich ja auch vor Ihrem inneren geistigen Auge Visuelles und Gefühltes zu einem neuen, zu Ihrem ganz privaten Interferenzmuster.
Vielen Dank!
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