THOMAS ANSCHÜTZ

Katrin Bettina Müller

 

Die Umkehrung des Sehens

 

Thomas Anschütz - Fotograf und Maler des Schwarz-Weißen Man kann mit Hilfe der Fotografie die Welt aufhalten, um gleichsam im Ruhezustand den Zusammenhang zwischen den beunruhigenden Erscheinungsbildern und den daraus ausgelösten Gefühlen zu untersuchen", schrieb der Maler und Fotograf Thomas Anschütz 1980. Damals lag sein Studium bei den Hamburger Realisten Kurt Haug und Rudolf Hausner noch nicht lange zurück; noch prägte die Forderung nach Erkenntnis der Wirklichkeit die künstlerische Suche. Doch in der Fotografie von Thomas Anschütz kündigte sich schon ein anderes Interesse für die bildnerischen Mittel an. Er setzte geometrisch reduzierte Strukturen aus Licht und Schatten ins Bild, die kaum noch identifizierbare Gegenstände wie Gebäudekanten und Rohre zeigten und als Bedeutungsträger denkbar ungeeignet waren. Die registrierten Formen galten nicht als Stellvertreter für außerhalb der Aufnahme Liegendes. Es scheint paradox, aber die dokumentarische Funktion des Mediums Fotografie legitimierte den noch dem Realismus verpflichteten Künstler, den Gesetzen minimalistischer Bildstrukturen auf den Grund zu gehen. In der Sammlung formaler Analogien distanzierte er sich von der Konstruktion von Bedeutung. Doch es war ein weiter Weg, bis auch der Pinsel von der Wiedergabe und der Interpretation der Wirklichkeit befreit war. Acht Jahre in New York haben den Pulsschlag seiner Bilder beschleunigt.

 

Heute versucht Anschütz nicht mehr, für seine Bilder die Welt anzuhalten. Gerade deren Drehung ermöglicht das Leben. Was mich in den malerischen Kompositionen aus Vordrängendem und Zurückweichendem, aus expandierenden Feldern und zusammenschnurrenden Linien anspricht, ist das Moment der Bewegung. Wirklichkeit untersucht er nicht länger am ruhiggestellten Objekt mit dem distanzierten Blick des Wissenschaftlers. Im Prozeß des Malens entsteht sie vielmehr in einer Komplexität, in der selbst Randunschärfen Informationen enthalten. In der Lichtbildkunst hatte der Maler schon die Auflösung des Bildgeschehens in schwarze und weiße Strukturen vorweggenommen. Sie lieferten die Syntax der malerischen Sprache, ohne sie mit der assoziativen Geschwätzigkeit und dem emotionalen Ballast der Farben zu füllen. Zufällig gesehene Formen, Augenblicke, Vorgefundenes wie in den fotografischen Motiven geben den Anlaß. Auf Leinwand gesetzt entwickeln sie ein Eigenleben. Gegenständliche Anklänge bieten Ausgangspunkte - nicht um ihre metaphorische Überhöhung geht es, sondern um die gleichwertige Einarbeitung ins Bild.

 

Die Eindeutigkeit des Raums wird ebenso aufgelöst wie die Kenntlichkeit eines zeitlichen Nacheinander der malerischen Schichten. Eine dünne, weiße Linie, die als Verklammerung zwischen der Bildtiefe und der Oberfläche dient, zerstört die Kontinuität der Perspektive. Der Faktor Zeit, den der lange malerische Prozeß den Sekundenteilen der fotografischen

Belichtung voraus hat, verleiht dem Bild Geschichte. Dennoch ist es mehr als das Dokument seiner Entstehung, denn es bezeugt die Gleichzeitigkeit verschiedener Ebenen von Wahrnehmung und Erinnerung, die, in sich gegeneinander verschiebenden Zonen der Überblendung, ständig neue Bilder erzeugen.

 

Schwarze Balken drängen weißen Raum zurück, weiße Schleier legen sich schemenhaft über schwarze Tiefe; Fläche, Raum und Körper lösen sich auf. Es ist nicht mehr eindeutig, in welchen Dimension wir uns befinden. Die Relativität von Zeit und Raum sprengt die alltäglichen Grenzen unserer Wahrnehmung: Artikuliert in der wissenschaftlichen Formel ist sie für uns nicht Weltraumreisende allein in den Künsten erfahrbar.

 

Gegenwart schlägt sich im Material und den Formen der Bildbearbeitung nieder. Malerei und Fotografie bringt Anschütz in einem neuen Verfahren zusammen, das die Trennung der fiktionalen und dokumentarischen Funktion noch mehr verwischt: Er bemalt transparente Folie - Negative von Bildern - die er erst als vergrößertes Positiv gewinnt. Wie mit dem Mikroskop dringt er in die Mikrostrukturen der Malerei vor. Unvorhergesehenes entsteht aus dem Prozeß der Umkehrung: Blitze und Lichtpunkte, entstanden aus schwarzen Spritzern, zerreißen die Fläche. Was vorher unstrukturierte Fläche war, erscheint als Relief feinster Erhebungen und Vertiefungen. Die malerische Kontrolle wird auf dem Weg der Befreiung von den Konventionen der Wahrnehmung ein Stück weit außer Kraft gesetzt.

 

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